Spielfunktion

Theoriekomprimat

Betrachtet man die angeführten Theorien über die Funktion des (Kinder-)Spiels, dann ergibt sich stark zusammen gefasst u.a. Folgendes:

  • Brian Sutton-Smith (1978): “Die Dialektik des Spiels” (S.65-102)
    Spiel sorgt u.a. für eine Umkehrung und damit Verständnis von Machtbeziehungen, ebenfalls für ein Verständnis komplexer Beziehungen über Abstraktion und Variation und bereitet über eine Erweiterung des adaptiven Verhaltenspotenzials auf einerseits gegenwärtig gegebene Erfordernisse (Sozialisation, Enkulturation, Konservation) als andererseits auch auf zukünftige, unvorhersehbare Veränderungen der Umwelt vor (Innovation, adaptives Verhaltenspotenzial (S.78), Produktion von ‘Unsinn’).
  • Rolf Oerter (1993): “Psychologie des Spiels”, S.211 ff.
    Das Spiel besitzt eine adaptive Funktion, es dient einerseits zur Realitätsbewältigung durch Austausch, Aneignung, Kontrolle, Protest; weiterhin entwickelt Spiel und bereitet auf zukünftige erwartbare Probleme vor.
  • Sigmund Freud in Rolf Oerter (1993): S.175-176
    Ausleben tabuisierter Impulse, Erfüllung des Lustprinzips statt Realitätsprinzip, Identifikation mit mächtigen (als ‘gut’ wie ‘böse’ empfundenen) Personen; Katharsis – ‘Reinigung’ – aggressiver Impulse (kritisiert).
  • Jean Piaget in Rolf Oerter (1993): S.178 f.
    Beim Symbolspiel ist Spiel “überbordende Assimilation”, d.h. der Spieler ‘eignet sich die Welt an’, formt sie in ihrer Bedeutung so um, dass sie seinem Ich unterwerfbar wird; es ist eine Verteidigung gegen die erzwungene Akkomodation (Anpassung an die ‘Realität’) der Erwachsenenwelt.
  • Lev Vygotsky (1933) zitiert in Rolf Oerter (1993): S.177
    “Auf die Frage, weshalb das Kind spielt, kann es nur die Antwort geben. das Spiel ist als eingebildete, illusionäre Realisation unrealisierbarer Wünsche zu verstehen.”

Kurz zusammen gefasst geht es im (Kinder-)Spiel u.a. um dem Umgang mit dem Gegebenen (z.B. der Kultur und ihren Anforderungen an das Individuum), dem Gewünschten (dem als individuell defizitär Erfahrenem) und – dialektisch zusammen geführt – dem potenziell Möglichen (im Spiel).

Spiel hilft also bei der ‘Bewältigung’ (fort)bestehender und potenzieller Realitäten, bei der Bildung und Erprobung von geforderten oder gewünschten, möglichen und unmöglichen Rollen, Selbstbildern, Identitäten.

«Der sinnliche Trieb will, daß Veränderung sei, daß die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb will, daß die Zeit aufgehoben, daß keine Veränderung sei. Derjenige Trieb also, in welchem beide verbunden wirken (…), der Spieltrieb also würde dahin gerichtet sein, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren.»
– Friedrich Schiller (1795), „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“, 14.Brief

Beispiele für Anpassungs- und Bewältigungsfunktionen

Ist die Einsicht, die sich bei Marc Prensky in Bezug auf die nützliche Verbindung von konkurrenzbasierten (Lern)Spielen zu Krieg und Marktwirtschaft findet, berechtigt?

„[…] since war is a highly competitive situation, with rules (or at least constraints), goals, winners and losers, competitive games are a great way to train. In the words of one former officer: ‚You play these games as a kid, you grow up understanding the risks and rewards of making decisions in real life.’ “
Marc Prensky (2001), „True Believers“, S.5 f.

Die US-Armee verwendet “America’s Army”, einen der erfolgreichstenFirst-Person-Tactical-Shooter (kostenlos und freigegeben ab 13 Jahren), nicht nur als Rekrutierungswerkzeug, sondern auch für Ideologisierung und Training:

„In elementary school kids learn about the actions of the Continental Army that won our freedoms under George Washington and the Army’s role in ending Hitler’s oppression. Today they need to know that the Army is engaged around the world to defeat terrorist forces bent on the destruction of America and our freedoms.“
– United States Army (2003-2004), Website „America’s Army”, “Windows FAQ – Parent’s Info“ (accessed 2007; siehe ebenfalls Source Watch)

Interessant ist auch die ‘Verwendung’ von Spielen als Faktor der Realitätsbewältigung bzw. Resilienz, sprich: Zur Stabilisierung angesichts von Lebensumständen, die üblicherweise eine schwere Belastung für die einzelne Psyche oder die Kultur darstellen würden.

Ein ähnlich konkretes Beispiel, das sowohl den Bereichen Bewältigung und Resilienz als auch Sozialisation zugeordnet werden könnte, findet sich bei Erich Renner über ein Kinderspiel zur Zeit der chinesischen Kulturrevolution:

“Daß Kinder und Jugendliche die Enttabuisierung aller bisherigen gesellschaftlichen Werte wahrnehmen, sich in ihrem Verhalten so darauf einstellen, daß sie die allgemeinen Tendenzen im negativen Sinne noch übertrumpfen wollen, illustriert ein Erinnerungsstück aus der Autobiographie der Chinesin Chen Danyan während der Kulturrevolution. (…) “Es gab in jenen Jahren einen schrecklichen Zeitvertreib: Die Jungen spielten ,Katzen morden’. Wenn nachmittags kein Unterricht war, strolchten sie bandenweise durch Straßen und Gassen und machten Jagd auf streunende Katzen.
[Anm. Tan: Es folgt eine extrem grausame Beschreibung der verschiedenen Tötungsarten] (…)
“Am meisten erschüttert jedoch die Verstrickung der Kinder in dieses Spinnennetz von Repressalien und Anpassung: Sie gebärden sich wie Abziehbilder der Erwachsenen”, formuliert eine Rezensentin dieser Autobiographie. Die Details dieser Situation sprechen eher dafür, daß die Kinder die Erwachsenen hier nicht nur nachahmen, sondern an Grausamkeit noch zu übertreffen suchen. Man muß mit Erschrecken wahrnehmen, wie scheinbar spielerische Handlungen in monströse Wirklichkeit umschlagen. Das grausame Spiel wird zum Spiegelbild der gesellschaftlichen Zustände.”
– In Erich Renner (2001), “Andere Völker, andere Erziehung. Eine pädagogische Weltreise”, Peter Hammer Verlag, S.276-279

Bei Rolf Oerter, der die Dokumente von Georg Eisen (1988) zu Spielen von Kindern in Ghettos und Konzentrationslagern heranzieht, findet sich ein funktional ähnliches Spiel:

“Eine häufig beobachtete Form der Bewältigung bestand für Kinder in den Ghettos und den KZs darin, die Realität einfach nach zu spielen. Die Wiederholung dessen, was sie tatgtäglich erlebten und nicht verarbeiten konnten, war ein erster und vordringlicher Weg, sich mit den Ereignissen auseinander zu setzen. (…)
Im Ghetto von Wilna war eines der häufigsten Spiele “Durchs Tor gehen.” Das Spiel wiederholte in realistischer Weise das Geschehen am Eingangstor zum Ghetto.
Zwei Hauptfiguren wurden ausgewählt: Levas, der jüdische Torwächter und Franz Murer, einer der übelsten Gestapo-Männer. Der Rest der Kinder spielte jüdische Arbeiter, die versuchten, Lebensmittel in das Ghetto zu schmuggeln, und Wächter, die Schmuggelware zu finden hatten. Während die Torposten die zurückkehrenden Arbeiter “durchsuchten” erschien Murer, der die Posten zur größeren Brutalität antrieb
und gleichzeitig eine Panik unter den Arbeitern auslöste. Sie versuchten verzweifelt, kleine Lebensmittelpakete beiseite zu schaffen, aber Murer stellte einige, die beiseite treten mußten, und ließ sie auspeitschen.”
– Rolf Oerter (1993) “Psychologie des Spiels. Ein Handlungstheoretischer Ansatz.”, Beltz, S.250

Vergleiche dazu dieses Zitat eines jungen Soldaten im Irak-Krieg 2004:

“We sort of zone out and know we can sit here and kill each other, and no one gets hurt, (…) Everyone comes out alive.”
– Spec. Robert McKinney über das Computerspiel “Halo” während der Operation Iraqi Freedom (Dezember 2004). (Link zum Artikel der Washington Post)

Dass nicht nur das Individuum, sondern gerade auch eine ganze Gesellschaft (symbolisch) mit dem spielt, was als alltägliche Herausforderung für Krisensituationen sorgt, findet sich auch bei Udo Thiedecke. Spiele spiegeln die Lebensumstände wieder, denen Angehörige bestimmter Kulturen oder Gruppierungen unterworfen sind. Für eine stratifizierte, feudale Gesellschaft würde dies z.B. bedeuten:

“Die Angehörigen der Unterschicht hätten zweifellos auch kaum Verwendung für Schach gehabt, ihre Probleme sind weniger der Kampf um Rangpositionen oder das Führen von Kriegen, als vielmehr das nackte Überleben, das von mannigfaltigen Zufällen oder der Willkür der Herrschenden abhängt. Folgerichtig spielt man in der Unterschicht, etwa der mittelalterlichen Ständegesellschaft, Geschicklichkeits- oder Glücksspiele, von denen wir auch heute noch z.B. das Kegeln oder die Kartenspiele kennen. (…)
Für den Adel eröffnet das Schach jedoch einen wichtigen gesellschaftlichen Exklusionsbereich. Hier kann der Kampf um Ränge erprobt, evt. in Partien unter Konkurrenten sogar simuliert werden, ohne dass dies politische oder territoriale Folgen nach sich zieht. (…) Neben Diplomatie ist also geschicktes Taktieren in der Kriegführung gefragt sowie die Möglichkeit, im Spiel die Konsequenzen von Angriff und Verteidigung ‚durchzuspielen’. Schach erweist sich so als ein gesellschaftliches Ordnungsspiel, das die Ordnung spielerisch in Frage stellt, als kontrollierte Normalitätsverschiebung in der schichtspezifischen Verwendung aber immer auch bestätigt.”
– Udo Thiedecke (2010), “Spiel-Räume: Kleine Soziologie gesellschaftlicher Exklusionsbereiche” in Caja Thimm (Hrsg.) “Das Spiel: Muster und Metapher der Mediengesellschaft.”, VS-Verlag, S.24

Bestimmte Spiele und Spielgenres waren und sind der Versuch von Individuuen und Kulturen – so die These – mit Umständen umzugehen, die außerhalb ihrer Einflussmöglichkeiten liegen, aber krisenhafte bis zerstörerische Situationen auslösen können. Dabei geht es entweder in Form kultureller Sozialisation bzw. individueller Adaption um das Lernen des Umgangs mit diesen Situationen; oder im Sinne der Resilienz bzw. der Realitätsbewältigung um den Erhalt von Kultur und Psyche angesichts von empfundener Machtlosigkeit bzw. unbeeinflussbarer Umstände.

Insofern wären dominante Spielprinzipien einer Kultur prinzipiell ein Indikator für ihre Unstimmigkeiten und Verwerfungen, für Verhältnisse von gesellschaftlicher Macht und Ohnmacht etc.; es sind dadurch in gewisser Weise Lernspiele, als dass sie den Umgang damit lehren – ob als Bemächtigung oder als Bewältigung.

Beispiele für Innovativon und adaptives Verhaltenspotenzial

Sutton-Smith weist auf die Fähigkeit des Spiels hin, nicht nur auf Bestehendes oder Erwartbares vor zu bereiten – sondern auch auf das aktuell Unmögliche oder das nur potenziell Mögliche:

“Während ein Spiel vielleicht die Pole eines speziellen Konflikts nachbildet, erlaubt es dem Spieler zugleich auch einen flexiblen Zugang zu beiden Polen, was im wirklichen Leben unmöglich ist. Ein Schachspieler mag im Leben immer nur subaltern sein, im Verlauf seines Spiels kann er sowohl die überlegene als auch die unterlegene Position einnehmen. Ein ‘Jäger’ flieht im täglichen Leben vielleicht immer vor etwas, doch das Spiel erlaubt es ihm, sowohl zu jagen wie zu fliehen. Spiele sind dazu da, Konflikte umformbar zu machen. Sie sozialisieren nicht nur, indem sie abbilden; sie, sozialisieren durch Abbilden und Umkehren. (mirroring and inyerting). Sie sind sowohl radikal als auch konservativ.”
– Brian Sutton-Smith (1978), “Die Dialektik des Spiels”, S.68

Die Umformung von bestehender Bedeutung zu etwas Neuem illustriert der Versuch von Rhoda Glasberg (1975), “Imaginative Play and the Divergent Process”:

“In einer Untersuchung von GLASBERG (1975) beschenkte man Kinder unter zwei Versuchsbedingungen mit Spielzeug. Einmal waren die Spielsachen thematisch miteinander verwandt (Schaufel, Harke und Wasserkanne), im anderen Fall hatten sie keine Beziehung zueinander (Schaufel, Boot und Telefon). (…) Unter der zweiten Versuchsbedingung machten die Kinder mit den thematisch nicht verwandten Spielsachen signifikant mehr ungewöhnliche Vorschläge zum Gebrauch der Schaufel als die Kinder unter der ersten Versuchsbedingung. Daraus schloß GLASBERG: Wenn man nichtverwandte Spielsachen den miteinander verwandten Spielsachen gegenüberstellt, dann erleichtert die Darbietung von nicht miteinander verwandten Spielsachen das ideenreiche Verhalten und bringt als Folge davon divergentes Denken hervor. Waren die Spielsachen Teil einer bekannten Thematik, dann veränderten diese vier- bis sechsjährigen Kinder nicht deren Identität. Waren nicht alle Dinge einer Thematik zugeordnet, dann änderten die Kinder deren Identität, um sie für sich in eine Art von Beziehung zu bringen. Das ist vielleicht ein Beispiel für das, was PIAGET ‘verzerrende Assimilation’ genannt hat.”
– Brian Sutton-Smith (1978), “Die Dialektik des Spiels”, S.77

Sutton-Smith zieht einen Vergleich zwischen den Rollen, das Spiel in den Kulturen – auch unserer – inne hat:

“Die Bedingungen für diese Spielfähigkeit variieren stark in den verschiedenen Kulturen; das haben interkulturell vergleichende Untersuchungen erwiesen. In denjenigen Kulturen, in denen kulturelle Rollen durch die Notwendigkeit zu überleben, rigide definiert sind und in denen Kinder frühzeitig in die Welt der Erwachsenenarbeit eingeführt werden (wie z. B. bei der Teppichweberei im Mittleren Osten oder der Seidenweberei in Indien), gibt es wenig Ermutigung und Zeit zum Spielen. Im Gegensatz dazu erfinden in der modernen Gesellschaft mit ihrer Forderung nach Anpassung an immer neue Gegebenheiten mehr Kinder modellhafte Welten, lassen sich mit imaginären Freunden ein und führen flexiblere Sozialdramen vor, als man den Kindern in dem großen Zeitraum der menschlichen Geschichte, über den wir Zeugnisse besitzen, jemals zugestanden hat.”
– Brian Sutton-Smith (1978), “Die Dialektik des Spiels”, S.68

Er vertritt so, wie Oerter bereits angemerkt hat, eine komplementäre Position zu den Ansätzen von Freud, Vygotsky oder Piaget:

“Das Spiel bereitet insofern auf die unvorhersehbare, nicht auf die vorhersehbare Zukunft vor. Es ist deshalb angebracht, die evolutionäre biologische Funktion des Spiels als Erweiterung des adaptiven Verhaltenspotentials (adaptive potentiation) zu bezeichnen. Das Spiel bringt eine große Anzahl von Reaktionsweisen mit zunächst nur potentiellem Wert hervor. Auf der Grundlage einer solchen funktionalen Definition versteht man besser, warum das Spiel nicht eine unmittelbare Vorbereitung auf die Gesellschaft darstellt, wie sie ist.”
– Brian Sutton-Smith (1978), “Die Dialektik des Spiels”, S.84

 

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