Versuch einer persönlichen Definition:
Welche Funktion hat das Spiel für mich?
Für mich ist Spiel eine Form der Lebensbewältigung (nach Oerter Psychologie des Spiels, 1999).
Hierin ähnelt es z.B. auch dem Traum, einem Gespräch unter Freunden oder einem wissenschaftlichen Diskurs. Wir versuchen die Komplexität von Welt so zu verarbeiten und abzubilden, dass sie aus einer bestimmten Perspektive interpretierbar wird. Das Spiel ist dabei einer von vielen möglichen Zugängen zur Welt.
Was unterscheidet Spiel von anderen Arten der Lebensbewältigung?
Es rückt Regeln in den Vordergrund.
Es verbietet, was beispielsweise im Traum oder im offenen Gespräch erlaubt ist. Für das Spiel charakteristisch sind für mich die mit den Einschränkungen komplementär verbundenen Möglichkeiten von Handeln. Das Spiel schafft ein System, das von allen Konventionen, die außerhalb des Spiels gelten entbindet. Es schafft so einen neuen moralischen Rahmen für Handeln.
‘Lebensbewältigung’ kann ja (neben der aktuellen Handlung im Jetzt) retroaktiv-verarbeitend und proaktiv-vorbereitend gelesen werden, einmal auf vergangene Erfahrungen bezogen (wie größtenteils im Traum) und auf irgendwann eintretende Umstände (wie im explorativen, übenden Spiel).
Oerter nennt die letztere Funktion adaptiv, da hier z.B. sich auf gegebene Geschlechtsrollen und deren Konflikte vorbereitet wird: Insofern rücken hier tatsächlich implizit kulturelle Regeln in den Vordergrund, und zwar nicht nur deren Inhalt (“Wenn du ein Junge bist, dann darfst du beim ‘Ticken’ andere Jungs hauen.”), sondern auch das bloße Vorhandensein von Regeln und dass sie in einem bestimmten Rahmen (dem des Spiels, der Schule, der Gesellschaft) befolgt werden müssen.
Insofern haben wir zwar die Möglichkeit, innerhalb des Bezugssystems des Spiels bestimmtes Verhalten zu rechtfertigen: “ich kann dir etwas gegen deinen Willen wegnehmen, und es ist trotzdem richtig und moralisch gerechtfertigt, weil es im übergeordneten Rahmen mit deinem Einverständnis passiert.”
Aber es ist kein völlig frei gestaltbarer moralischer Raum, weil der ‘magische Kreis’ in dem dies stattfindet, immer noch auf moralisches Handeln angewiesen ist. Ohne die übergeordnete Regel, dass im Spiel andere Regeln und Erzählungen herrschen – gibt es kein Spiel?
Soweit ich verstanden habe, wird sich deine Spielidee in genau dieser Grauzone bewegen: Die Zone, in der die ausgehandelte “Spielmoral” mit der kulturell gesicherten “spieldefinierenden Moral” zusammen stößt.
Pervasive Games und Unusable Games bewegen sich spielerisch oder gezielt in dieser ‘gefährlichen’ (weil irritierenden, verängstigenden oder verstörenden) Grauzone der Moral.
Soweit ich mich erinnere, spricht Rolf Oerter diese Thematik nicht an, es geht hauptsächlich um die adaptive Funktion.
Du betrittst mit deinem Spiel so gesehen also Neuland…
Welche Art der Lebensbewältigung wird in deinem Spiel verfolgt? 😉
Ich verstehe Lebensbewältigung eher als retroaktiv und gegenwärtig-verarbeitend. In dem Sinne wär Spiel eine Schnittstelle zwischen Umwelt und Individuum.
Dass Spiel moralisch ist, würde ich so, wie Du es dargestellt hast, unterschreiben.
Was ich meinte war:
Es ist kein (gemeinsames) Spiel, wenn die Beteiligten sich nicht zumindest über die oberste Regel (das erlaubt ist, was das Spiel nicht verbietet) einig sind. Ich finde genau diesen Punkt interessant:
Wie weit reicht dieses Einverständnis? Wo hört für andere und für mich Spiel auf? (und Ernst/Realität beginnt?) Ist es in Ordnung mit der eigenen Umwelt ein Spiel zu spielen über das außer mir selbst keiner informiert ist?
Ich habe ein sehr liberales Verständnis davon, wie lange Spiel für mich noch Spiel ist, habe aber im Spiel mit Freunden z.T. Unterschiede, aber auch ähnliches Verständnis gesehen.
Mein Spiel wird sich nach der bisherigen Idee an ein behavioristisches Weltverständnis anlehnen. Ich stelle im Alltag oft fest, dass das eigene Handeln mehr von der Umwelt beeinflusst ist, als mir lieb ist. Zumindest dann, wenn ich die ‘Skinner-Brille’ aufsetze.
Mein Spiel könnte also bei der Beschäftigung mit der Frage ‘Welche Konsequenz hätte es, die Welt auf diese Weise zu sehen?’ helfen.
Welche übergeordnete Funktion das Spiel für den Spieler hat, bestimmt natürlich der Spieler selbst, nicht das Spiel. Zum Spiel aber später mehr.
Das finde ich sehr interessant – Spiel würde aus deiner Sicht also weniger zur Vorbereitung auf Zukünftiges sondern zur Verarbeitung von Vergangenem und Präsentem dienen: Wie eine Art Wachtraum (“lucid dream”)…!
Das ist in der Tat eine der Kernfragen des Seminars: “Wo hört für andere und für mich das Spiel auf?”
Welche Kriterien erlauben es, zwischen gemachtem Spiel und gegebener sozialer Realität zu unterscheiden?
– Bereitet Spiel den Menschen (als Kind und als Menschheit) eventuell genau darauf vor, zwischen gemachter und vorgefundener ‘Realität’ zu unterscheiden? Gregory Bateson vertritt z.B. diesen Ansatz in “Eine Theorie des Spiels und der Phantasie”, ich stelle den Aufsatz mal in den Studienmaterialordner.
– Ist das, was Spiel ausmacht, im Kern sogar genau das: Die Freude am ‘Dazwischen’ haben? Also weder in einer komplett selbst erschaffenen Welt zu wirken noch in einer gegebenen Welt Wirkungen ausgesetzt zu sein, sondern zwischen beiden ‘spielen’ zu können? Friedrich Schiller hat dazu in seinen “Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen” Thesen aufgestellt.
– Oder funktioniert soziale Realität sogar so ähnlich wie Spiele, als dass es Spielregeln und Erzählungen gibt, die bestimmtes Verhalten in bestimmten Kontexten erlauben und anderes sanktionieren – mit dem Unterschied, dass sie nicht als gemachte Spielregeln und Erzählungen gekennzeichnet sind, sondern “Gesetze”, “Werte”, “Gebräuche”, “Geschichte”, “Traditionen” etc. heissen? Huizinga bewegt sich in dieser Richtung, wenn er den z.B. den Gerichtssal mit dem Tennisplatz als “Spielort” gleichsetzt. (Auszug steht im Studienmaterialordner).
Paul Watzlawick gibt dazu ein lustiges Beispiel aus dem 2. Weltkrieg, als US-Amerikanische GIs und britische Mädchen mit unterschiedlichen Spielregeln das selbe Spiel spielten: “Flirten” – mit erwartbar merkwürdigen Folgen. Ich habe eine Beschreibung in den Studienmaterialordner gestellt:
“In both the British and American cultures, there are, let’s say 20 distinct steps in the ritual of courtship — between the first hello and going to bed. One step that occurs in both cultures is ‘the kiss on the lips.’ In America, this is about step number three. It’s something you do to establish intimacy. But in England, this is around step 18. It’s about the last thing you do before engaging in sexual intercourse.”
Man kann sich ausmalen, was passiert…
Was in Huizingas Gerichtssaal vielleicht schwer als Regelspiel erkennbar ist, lässt sich beim Flirten dann doch recht gut ausmachen. 😉
Betreffs “behavioristisches Weltverständnis” – was passiert denn, wenn du deine “Skinner-Brille” aufsetzt?
zum Spiel als Wachtraum: Ja, so sehe ich das.
zur Funktion des Spiels: Ich denke, dass wir ursprünglich nicht zum Üben von etwas Spielen. Zumindest nicht aus der individuellen Perspektive; vielleicht aus evolutionärer. Wir spielen ohne zu wissen, dass wir dabei auch Üben.
zur gemachten/vorgefundenen Realität: Ich sehe eine große Übereinstimmung zwischen Spiel und sozialer Realität. Beide nutzen ausgehandelte Regeln und bilden ein Gerüst der Handlungsorientierung. Das passt auch zum psychologischen Schemabegriff. Hier wird als Beispiel oft der Restaurantbesuch genannt, der festen Regeln folgt und bestimmte Aktionen sanktioniert.
zur Brille: Hiermit meine ich eine Art die Welt zu betrachten; wie etwa kognitivistisch, humanistisch, systemisch oder auch behavioristisch. Diese ‘Brillen’ haben unterschiedliche Färbungen (=Prämissen) mit denen sie einen Blick auf die Welt ermöglichen. Ich denke, dass unvoreingenommenes Wahrnehmen/Konstruieren nicht möglich ist. Gewissermaßen tragen wir also die eine oder eine andere Brille.