IN: Erich Renner (‘Andere Völker andere Erziehung – Eine pädagogische Weltreise’)
Zum Einen: „Die meisten der hier gesammelten und alle in Al- Qa (Jemen) hinzugekommenen Spiele der Jungen sind Ballspiele. Entweder ist der Ball das einzige notwendige Spielzeug oder das weitere Material (Büchsen, Stöcke…) leicht zu besorgen. Alle Spiele beruhen vor allem auf körperlicher Geschicklichkeit oder Kraft. Immer handelt es sich um eine Jagd, bei der der Ball die Waffe repräsentiert. Manchmal offenbart sich der Jagdcharakter der Spiele bereits im Namen: Ring des Todes, Fischfänger… Bei anderen Spielen verbirgt sich die Dramatik des Spielablaufs hinter nahezu läppischen Alltagsbegriffen: Büchsen, Eier, Steine, Loch. Beide Namensgebungen, die übertriebenen martialischen wie die banal einfallslosen, stehen für die komplexe Haltung der Kinder zu ihrem Spiel: In ihren Augen sind sie alltäglich, einfach, selbstverständlich und außergewöhnlich, vielschichtig und phantastisch zugleich. Derselbe harmlose Zeitvertreib kann binnen weniger Sekunden zum fesselnden Kampf auf Leben und Tod werden.
Der Grund für diese extremen, doch einander nicht ausschließenden Haltungen liegt in unserer Fähigkeit, eine Beziehung zur Welt aktiv herzustellen, zu entwickeln und zu verändern. Im Spiel sind wir frei, je nach Stimmung oder Wunsch verschiedene Haltungen, von kühl und gelassen bis leidenschaftlich engagiert bewuß einzusetzen.”
Man merke, der Verfasser unterscheidet hier nicht zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen! Dieses jemenitische Beispiel zeigt aber auch, wie die typisch islamische Geschlechtertrennung in der städtischen Übergangsgesellschaft bis ins Jugendalter nicht stattfindet. Sie zeigt sich eher als Konkurrenzverhalten, wobei die Jungen sich deutlich konservativ verhalten. Es ist eigentlich schwer vorstellbar, daß sich die hier auftretenden selbstbewußten Mädchen später unter einen Schleier zwingen lassen. Man könnte von der emanzipatorischen Funktion konkurrierender Spiele zwischen Mädchen und Jungen sprechen.
Zum anderen: „Jemeniten spielen überwiegend im Freien, während sich der Spielraum der westlichen Kultur zunehmend ins Haus verlagert hat. Fast könnte ich von einer Domestierung des Spiels sprechen: Das Kinderspiel im Haus muß, den Umständen entsprechend, ruhiger und disziplinierter sein. Weder kann sich hier physische Kraft entfalten, noch können unbegrenzt Mitspieler teilnehmen. Und natürlich lassen sich die Spiele im Haus von Erwachsenen besser beaufsichtigen.”
Darüber hinaus wurde laut Autor der jahreszeitliche Verlauf der Kinderspiele bei vielen Völkern beobachtet ebenso der nahtlose Übergang des Kinderspiels in die Tätigkeiten der Erwachsenen.
Hierzu Turnbull: „Wie die Kinder in aller Welt lieben auch die Pygmäenkinder, ihre erwachsenen Vorbilder nachzuahmen. Damit beginnt für sie die Erziehung; die Erwachsenen werden sie immer ermutigen und ihnen helfen. Was gibt es sonst für sie zu lernen, als daß sie zu guten Erwachsenen werden?”
Fritz Seidenfaden hat in einer vergleichenden Studie anhand von Beispielen aus Neuguinea, Nordamerika und Afrika die Frage rein nachahmender Kinderspiele diskutiert. Er kommt zu dem Ergebnis, man könne von hundertprozentiger Nachahmung eigentlich nicht sprechen, weil Kinder immer spielerisch eigene Elemente hinzufügen. Nachahmung sei vielmehr selektiv, habe häufig karikierenden Charakter: „Es handelt sich um eine freie Nachahmung des Erwachsenenlebens, die auch Raum läßt für ironische Distanz.”
Daß Kinder und Jugendliche die Enttabuisierung aller bisherigen gesellschaftlichen Werte wahrnehmen, sich in ihrem Verhalten so darauf einstellen, daß sie die allgemeinen Tendenzen im negativen Sinne noch übertrumpfen wollen, illustriert ein Erinnerungsstück aus der Autobiographie der Chinesin Chen Danyan während der Kulturrevolution. Es geht hier um ein Spiel, wo Kinder versuchen, möglichst viel Katzen zu töten.
Sie gebärden sich wie Abziehbilder der Erwachsenen.”, formuliert eine Rezensentin dieser Autobiographie. Die Details dieser Situation sprechen eher dafür, daß die Kinder die Erwachsenen hier nicht nur nachahmen, sondern an Grausamkeit noch zu übertreffen suchen. Man muß mit Erschrecken wahrnehmen, wie scheinbar spielerische Handlungen in monströse Wirklichkeit umschlagen. Das grausame Spiel wird zum Spiegelbild der gesellschaftlichen Zustände.
Die Unterschiede im Kinderspiel des jeweiligen Landes/Region sind schon zu erkennen, wobei man allerdings nicht verallgemeinern kann, dass Kinder aus Afrika oder dem Jemen halt draussen spielen und Kinder der westlichen industriellen Länder halt im Haus. Ich glaube auch nicht, dass die grausamen Spiele der Kinder immer zum Spiegelbild der gesellschaftlichen Zustände werden. Mein Großvater hat in seiner Jugend während dem 1. Weltkrieg auch Ratten zum Spaß gequält, ich hatte aber erst letztens einen Jungen (10 Jahre) auf einer Klassenfahrt, der sich einen Spaß daraus gemacht hat, Salamander zu malträtieren…und dass im Jahre 2011 in einem reichen und wie ich finde, recht gut funktionierendem, sicheren Land. Als Pädagoge könnte man nun vielleicht anmerken, dass er aus schwierigen familiären Verhältnissen kommt und vermuten, dass er deshalb diese grausamen Spiele spielt, wobei ich dann aber eher sagen würde, dass das Spiel hier zum Spielgelbild seiner Seele, aber sicher nicht zum Spiegelbild der gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse wird…
Ich finde den Aspekt interessant, dass Spiel MEHR als Nachahmung von Beobachtetem ist:
Wenn im Spiel selektiert und verstärkt (auch radikalisiert) wird, was wir in der Welt vorfinden, dann können sowohl Spieler als auch Nicht-Spieler aus dieser Interpretation lernen.
Beispielsweise könnte also eine Mutter im Spiel ihres Kindes etwas über ihre Beziehung zu ihrem Mann vor Augen geführt werden, dass Sie ohne das Vater-Mutter-Kind-Spiel des Kindes nicht bemerkt hätte. Unter Umständen ist dem Kind das, was es darstellt aber gar nicht bewusst.
Etwas Ähnliches schreibt man auch Künstlern und ihren Meisterwerken zu: Es kann mehr daran (schlüssig) interpretiert werden, als ursprünglich ausgedrückt werden sollte.
Das klingt nach einem sehr guten Beispiel für einen Übergang von nachahmend-stabilisierendem Spiel zu erweiternd-erneuerndem Spiel!
Sutton-Smith fasst beide Formen kurz in “Dialektik des Spiels” ab S.97 zusammen.
Und es passt auch recht gut zum Verständnis von Kunst, in dem der Künstler nicht der ausschliessliche Schöpfer des Werkes ist, sondern dem Betrachter einen Interpretationsraum zur Verfügung stellt.
Ich stimme dir zu, dass sich das Spielverhalten nicht verallgemeinern lässt, insbesondere nicht in einer zunehmend globalisierten Welt mit einer gewissen Allgegenwart elektronischer Medien und ihrer Inhalte.
Und dass grausame Spiele nicht automatisch zu einer grausamen Gesellschaft führen müssen, führt z.B. auch Oerter in “Psychologie des Kinderspiels” an (s. z.B. S.250), wenn er die kathartische Wirkung dieser Spiele benennt. Meiner Ansicht nach ist dann aber nicht das Spiel der Vorgriff auf spätere, sondern der Spiegel aktueller, symbolhaft umformulierter und damit entschärfter Grausamkeiten.
Sollte die Katharsis-Theorie stimmen, dann würden Kinder und Erwachsene in grausamen Spielsettings ihre Ängste und Unsicherheiten bewältigen, und dies könnte wiederum zu einer ausgeglicheneren, selbstbewußteren Gesellschaft führen.
Wenn von 1000 Kindern eines davon Tiere im Spiel quält und tötet, sagt dies sicher etwas anderes aus, als wenn dies 10 Kinder, 100 Kinder oder fast alle Kinder tun – wie es bei Renner (2001): “Andere Völker – andere Erziehung”, S. 276 ff. die chinesischen Kinder während der Kulturrevolution zu tun scheinen. Und noch einmal anders gewichtet werden müsste, wenn kein Protest von Erwachsenenseite erfolgt oder wenn gar Erwachsene das Spiel anfeuern, ermutigen oder weiterspielen.
Hier ist meiner Ansicht nach eine gewisse Bandbreite vom Spiel als Spiegel von individueller bis hin zu kultureller Prägung erkennbar.
Das Problem ist: Die individuellen Prägungen fallen eher auf – da sie meist den kulturellen Prägungen entegenlaufen. In den kulturellen Prägungen bewegen wir uns selbst, es sind unsere Maßstäbe, anhand deren wir ‘gutes’ und ‘schlechtes’ Verhalten messen. Abstraktion und Symbolisierungen von Spielhandlungen tun ein übriges, um bestimmte Deutungen dem Spieler (durchaus sinnvoll) zu erschweren und aus einer kritischen kulturellen Deutung heraus zu rücken.
Eine Frage für Pädagogen wäre: Wie können wir auf etwas aufmerksam gemacht werden, was den Rahmen für unsere Aufmerksamkeit darstellt?
Zur Pädagogen-Frage:
Wie können wir auf etwas aufmerksam gemacht werden, was den Rahmen für unsere Aufmerksamkeit darstellt?
Das ist eine Figur-Grund-Thematik und erinnert mich sehr an Watzlawick. Im systemischen Ansatz geht es ja auch darum, einen (festgefahrenen) Rahmen der Interpretation einer Situation zu verlassen und neue (auch Meta-) Perspektiven zur Lösung eines Problems einzunehmen. Das heisst nicht, dass es uns auch leicht fällt, diesen Schritt zurück zu machen. Ganz im Gegenteil.
Ich denke aber, dass das Spiel eine solche Möglichkeit einschließt und Perspektivwechsel ermöglicht.
Wenn es gut gemacht ist, merkt man evtl. gar nicht, dass man den üblichen Deutungsrahmen verlassen hat (in etwa: sich von der Situation einnehmen lassen; ‘Hab ich das wirklich gemacht?’). Der Rahmen wird im Spiel von der Narration bestimmt und legt zumindest ein Handlungsmuster nahe (vgl. Werwolf). Ob man aus dem nahegelegten Handlungsmuster Rückschlüsse auf den allgemeinen Rahmen zieht, bleibt aber offen.
Ausnahmen oder Sonderfälle für diesen Rahmen lassen sich aber auch außerhalb des Spiels finden (z.B. in Fast-Food-Restaurants ist es üblich mit den Fingern zu essen, in anderen Restaurants nicht).
Zur Katharsis-Theorie:
Nach allem, was ich bisher im Studium davon gehört habe, ist die umstrittene Theorie zwar wieder populär geworden, aber empirisch lassen sich eher Lerneffekte (z.B. ‘Üben’ von Grausamkeit führt zu leichterem Abruf von Grausamkeit als Handlungsoption!) als eine Katharsis finden. Es bleibt aber eine umstrittenes Thema.
Aus Gonzalo Frascas frei verfügbarer, sehr empfehlenswerter Thesis “Videogames of the Oppressed. Videogames as a Means for Critical and Debate.” (2001); Frasca zitiert Sherry Turkle:
” “But one can imagine a third response. This would take the cultural pervasiveness of simulation as a challenge to develop a more sophisticated social criticism. This new criticism would not lump all simulations together, but would discriminate among them. It would take as its goal the development of simulations that actually help players challenge the model’s built-in assumptions. This new criticism would try to use simulation as a means of consciousness-raising.”
(Turkle, 1995)
What Turkle is suggesting seems to be a deconstructive approach towards constructivism. Instead of encouraging the participants to build a model, Turkle envisions a simulation that would foster its own dissection by letting players to constantly challenge its own rules.”
Ein neuer Modus der Figur-Grund-Unterscheidung wird ja prinzipiell nur dann nötig, wenn der vorherrschende ein unbefriedigendes Ergebnis nach sich zieht. In der Therapiesituation also, wenn der Patient sch und die Welt gerne anders sehen wollen würde, aber nicht weiß, wie – und wie es ihm gelingen soll. Bestimmte Spiele (und andere Medien) arbeiten hier z.B. mit Multiperspektivität, Karikatur, Paradoxon.
Bateson hat dafür drei ‘Kunstgriffe’ genannt:
1. Das Erzeugen eines Paradoxons innerhalb einer Prämisse
2. Das Erzeugen eines Widerspruchs entweder zwischen zwei Prämissen oder einer
Prämisse und dem praktischem, tatsächlichem Deuten und Handeln
3. Das Erzeugen einer Übertreibung oder Karikierung von Erfahrungen, die auf den alten
Prämissen beruhen
– Bateson (1985), „Ökologie des Geistes“, S.391
Ich möchte in Erweiterung der drei genannten Kunstgriffe einen vierten hinzufügen:
4. Das Erzeugen einer subversiven Relativierung des Standpunkts, d.h. dem Aufzeigen, dass die eigenen Prämissen nur eine Möglichkeit unter vielen anderen denkbaren oder tatsächlich angewandten Prämissen sind.
Zur Katharsis-Theorie: Die altehrwürdige Katharsis-Theorie lässt sich in gewisser Weise an moderne Theorien der Bewältigung anschließen; einer medial vermittelten und kontextualisierten Form der Gewalt beizuwohnen kann eher kathartische Wirkung haben, als mit ‘purer’, spontaner Gewalt konfrontiert zu werden. Durch eine Kontextualisierung als Spiel z.B., wie von Oerter auf S.250 genannt; als Märchen wie z.B. bei Bruno Bettelheim; oder innerhalb einer größeren Rahmennarration wie in den griechischen Dramen, wird die Gewalt sinnhaft fassbarer, im wahrsten Sinne des Wortes ‘sinnvoller’ und damit handhabbarer.